Der Vintage-Look ist beliebt: Dazu gehören Möbel und Deko im nachgemachten Shabby-Chic der 1950er Jahre genauso wie der „Pompadour“, also der Männerhaarschnitt mit den kurzgeschnittenen Seitenpartien und dem langen Deckhaar. Doch wie (fast) alle Moden ist auch „Vintage“ keine neue Erfindung – hier sogar im doppelten Sinne: Hinter der Frisur und der Oldschool-Einrichtung verbirgt sich – für reine Modefans oft nahezu unsichtbar – ein Ausläufer der Rockabilly-Kultur.
„Flip, Flop & Fly“ – Woher kommt der Rock’n’Roll?
Ausladende Petticoats, Pomade im Haar und der Hüftschwung von Elvis Presley – das sind dem Klischee nach die Hauptzutaten des Rock’n’Roll. Doch dahinter steckt ursprünglich eine Protestbewegung: In den USA der 1940er Jahre prägte die Nachkriegsgeneration der Beatniks eine Kultur der Underdogs und des Aufbegehrens gegen Eltern und Gesellschaft: Dabei ging es zunächst jedoch nicht hauptsächlich um Musik. Schriftsteller wie Allen Ginsberg, William Burroughs und Jack Kerouac feierten zwar die Improvisationen des schwarzen Bebop-Jazz, zelebrierten aber vor allem einen chaotischen, spontanen, freizügigen und kreativen Lebensstil.
Seinen offiziellen Soundtrack fanden die „jungen Wilden“ erst in den 1950er Jahren: Elvis Presley schuf mit dem schluckaufartigen Gesang, Gitarre und Kontrabass von „That’s Alright Mama“ (1954) den Prototyp eines Rockabilly-Songs. Doch das spätere Idol „Elvis the Pelvis“ blieb zunächst fast unbeachtet: Tatsächlich waren es Bill Haley & His Comets, die im selben Jahr mit „Rock Around The Clock“ die Musikwelt aus den Angeln hoben und den Rock’n’Roll zu einer ernstzunehmenden Subkultur machten.
„Baby, It’s Love“ – Rockabilly durchdringt das ganze Leben
Zunächst einmal: Rock’n’Roll und Rockabilly sind nicht dasselbe. Rock’n’Roll entstand, als weiße Musiker afroamerikanische Unterhaltungsmusik entdeckten und ihre Version davon schufen. Heute dient die Bezeichnung als Sammelbegriff für sämtliche Vorläufer der modernen Rockmusik. Rockabilly dagegen ist nur eine Spielart des Rock’n’Roll: Dafür vermischten die Hillbillies, also „Hinterwäldler“ aus den amerikanischen Südstaaten, den schwarzen Rhythm and Blues mit ländlicher Countrymusik. Richtig populär wurde diese zunächst eher nebensächliche Spielart als Bezeichnung erst, als Anfang der 1980er Jahre ein massenübergreifendes Revival der Rockabilly-Musik erfolgte.
Doch ob Rock’n’Roll-Bewegung oder Neo-Rockabilly – beide Jugendkulturen umfassen mehr als „nur“ Musik. Sie beeinflussen auch Kleidung, Frisuren und Auftreten ihrer Anhänger.
„C’mon Everybody“ – Die Musik
Zum ersten Mal tauchte der Slangausdruck für Sex („rock and roll“ = wiegen und wälzen) im schwarzen Rhythm and Blues auf. Erst der amerikanische DJ Alan Freed führte den Ausdruck als Genrebezeichnung ein. Die bezeichnete Musik war – vor allem im Vergleich mit der damals populären leichten Unterhaltungsmusik der Elterngeneration – wild, laut und aggressiv. Chuck Berry, Little Richard, Jerry Lee Lewis und Elvis Presley lösten mit ihren mitreißenden, oft sexuell konnotierten Darbietungen starke Emotionen aus und führten buchstäblich zu einer Spaltung der Generationen: Zum ersten Mal bekamen Jugendliche ihre „eigene“ Musik, die ihre Stimmungen und Bedürfnisse ausdrückte und mit gesellschaftlichen Konventionen brach. Dies wirkte wie eine Befreiung – und dies drückte sich neben dem oft als respektlos verurteilten Verhalten natürlich auch im Tanzstil aus:
Keine zehn Jahre später waren jedoch nicht nur etliche der einstigen Helden James Dean, Eddie Cochran und Buddy Holly nicht mehr am Leben. Auch der Rock’n’Roll war praktisch tot: Das Rampenlicht gehörte jetzt den Beatles. Doch parallel zum Beginn der Hippiebewegung am Anfang der 1970er Jahre schlich sich der Rock’n’Roll wieder an: Bill Haleys „Shake, Rattle And Roll“ schaffte es in die Charts und plötzlich waren die langen Jacketts der Teddy Boys, die Tollen und Petticoats wieder schick. Spätestens mit Shakin’ Stevens und den Stray Cats wurde der Neo-Rockabilly für die breite Masse gesellschaftsfähig. Und auch, wenn der Rockabilly als Mainstream-Bewegung sich nicht länger hielt als jede andere Mode, so hat er sich als lebendige Subkultur bis heute gehalten.
Damals wie heute ist der Tanz dabei untrennbar mit der Musik und dem Rockabilly-Lifestyle verbunden: Jedes Jahr gibt es weltweit unzählige Weekender, bei denen ein ganzes Wochenende zu Livemusik getanzt wird; außerdem finden in Großstädten wie Berlin oder im Ruhrpott neben Konzerten regelmäßige Record Hops statt, bei denen Jive-, Lindy-Hop-, Stroller- und Boogie-Woogie-Fans das Tanzbein schwingen. Auch Tanzwettbewerbe haben ihren festen Platz in der Szene:
„Lipstick On Your Collar“ – Das Outfit
Die wichtigste (ungeschriebene) Regel aller Subkulturen lautet wohl, dass ihre Anhänger bei Veranstaltungen wie im täglichen Leben auf den ersten Blick zu erkennen sein sollten – da machen Rockabillies und Rockabellas keine Ausnahme.
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Der Look: Das Aussehen ist bei Männern und Frauen dabei gleichermaßen gepflegt. Während ein Rockabilly in der Regel einen Kamm in der Hosentasche hat, wird die Rockabella durch ein ausdrucksstarkes Make-up gekennzeichnet: ein ausgeprägter Lidstrich und knallrot betonte Lippen nach dem Vorbild der Cartoon-Figur Betty Boop sind hier die wichtigsten Stil-Elemente. Tattoos gehören für beide Geschlechter oft ebenfalls dazu. Klassische Motive sind hier etwa Würfel, Kirschen, Schwalben, Anker, Pin-up-Girls, Sterne, Totenkopf, Eight Ball sowie das „True Love“-Pärchen:
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Die Frisur: Während bei den Frauen vor allem Victory Rolls, Pferdeschwanz und/oder ein akkurater Pony zu sehen sind, ist es bei den Männern die mindestens ebenso sauber gekämmte Pomadenfrisur genannt „Greaser“ (engl. für „Schmier-“ oder „Fettkopf“). Dabei gibt es allerdings viele Spielarten von der einfachen Tolle mit oder ohne Teddy-Boy-Stirnlocke bis zum sogenannten „Entenarsch“ und dem heute wieder so populären Pompadour.
Die Kleidung: Für die Rockabella gibt es vom Neckholder-Dress über enganliegende Pencil-Skirts und Tellerrock bis zu Marlenehosen und High-Waist-Shorts eine große Auswahl an Garderobe, welche die weibliche Figur vorteilhaft betont. Besonders beliebt: Hibiskus-, Schwalben- und Ankermotive, Polka Dots, Leopardenmuster, Streifen und der Matrosenlook. Bevorzugt werden dabei Vintage-Stücke aus den 1950er Jahren und die Designerstücke kleinerer Labels, die sich an den Originalen orientieren.
Bei den Männern genügen – dank James Dean – ein weißes T-Shirt, (umgeschlagene) Blue Jeans und eine Zigarettenschachtel im aufgekrempelten Ärmel als Rockabilly-Einsteiger-Outfit. Erweitern lässt sich diese Standardausrüstung etwa um Creepers mit extradicken Sohlen, ein knielanges Drape oder Hosenträger. Eine genaue Kenntnis der „Szene“ ist dabei unabdingbar, denn die Auswahl der Kleidung bestimmt maßgeblich die Zugehörigkeit zu den Untergruppen. Hier unterscheiden sich zum Beispiel die oft eher aggressiven Teddy Boys mit knielangen Jacketts und Stirnlocke von den eher dem feinen Swing-Look zugeneigten Hep Cats mit Mantel, Gamaschen und weichen Hüten. Denn obwohl die Grenzen zwischen den Splittergruppen anders als noch in den 1980er Jahren heute nicht mehr mit Straßenschlachten verteidigt werden, spielen die optischen Unterschiede innerhalb der Subkultur weiterhin eine wichtige Rolle.
„Everybody Likes My Rocket 88“ – Hot Rods und Retro-Möbel
Der Rockabilly-Lifestyle beschränkt sich bei vielen seiner Anhänger nicht nur auf den eigenen Modestil und Musikgeschmack: Bei Weekendern werden neben den Tanzkünsten auch fahrbare Untersätze im Rock’n’Roll-Stil präsentiert. Dabei handelt es sich natürlich um Oldtimer wie Cadillacs, Chevrolets, Thunderbirds, Rolls Royces, Plymouth Savoys, Pick-ups und Hot Rods aus den 1920er bis 1940er Jahren – entweder liebevoll restauriert oder stilvoll verrottet als „Rusty Car“.
Außerdem wird oft auch die Wohnung mit Nierentischen, Club- und Cocktailsesseln, Servierwagen, Vitrinen mit Glasaufsatz und Jukeboxen gestaltet – entweder original vom Flohmarkt oder als zeitgenössischer Nachbau. Neben Resopal und Pastelltönen ist auch die Einrichtung im American-Diner-Stil beliebt.
“Rockabilly Rebel From Head to Toe” – Authentizität vs. Modeerscheinung
Kurz: Rock’n’Roll kann in beinahe allen Lebensbereichen optisch ausgedrückt werden, was natürlich auch die Konsumindustrie längst für sich entdeckt hat: Wer also bei einer Suchmaschine „Rockabilly“ eingibt, stößt (außer auf den entsprechenden Wikipedia-Artikel) vor allem auf Online-Shops. Einer davon wirbt mit dem Slogan „Lebe den Rock’n’Roll Lifestyle“ und bringt damit zur Sprache, was „echte“ Rockabillies seit jeher auf die Palme bringt.
Es geht natürlich um die Frage, ob man tatsächlich den authentischen Lifestyle oder eben nur einen Modeartikel kaufen kann. Die Subkultur verteidigt ihren Lebensstil dabei erbittert gegen die sogenannten „Plastics“: Wer also nur ab und zu die Jeans umkrempelt, seine Petticoats im falschen Modemagazin entdeckt hat oder die Victory Rolls eher amateurhaft aufgesteckt hat, der wird vom harten Kern der „Szene“ – den Tänzern, den Konzertgängern, den Weekenderbesuchern – schief angeschaut.
Fazit
Die „Szene“ schottet sich ab; zumindest sieht es auf den ersten Blick oft so aus. Vielleicht liegt es daran, dass Rockabilly unter seinen Anhänger nach wie vor als Leidenschaft gilt – als etwas, das länger dauert als eine Modesaison. Und das ist, was den Rockabilly letztlich von „Retro“ als reinem Trend unterscheidet: Einmal Pompadour, immer Pompadour.
Tipp: Eintauchen in die Szene oder einfach Party machen zu coolem Rock’n’Roll-Sound – die spannendsten Rockabilly-Events 2018 in Deutschland, Europa und den USA haben wir in einem neuen Beitrag zusammengestellt.