Man stelle sich ein schönes Paar vor: Sie, 39, lange dunkle Haare, studierte Wirtschaftsingenieurin, ist von seiner sie mitreißenden Energie begeistert, liebt seine fürsorgliche Art und ist sich seit acht Jahren sicher, dass er der Richtige für ein „für immer und ewig“ ist. Er, zwei Jahre älter, ebenfalls dunkelhaarig und Industriekaufmann, schätzt ihre Widerspenstigkeit, mit der sie ihn zunächst auf Abstand gehalten hatte, fühlt sich an ihrer Seite lebendig und glaubt ebenfalls, angekommen zu sein.
Ansgar und Rieke erfüllen das, was Schweizer Forscher im Rahmen einer Langzeitstudie einst als ideale, trennungsverhindernde Paar-Konstellation entdeckten (beide haben die gleiche Nationalität, beide sind nicht bereits geschieden, er ist mindestens fünf Jahre älter und sie ist gebildeter als er) in zwei Punkten nicht, weil er nicht nur weniger alt ist, sondern auch eine gescheiterte Ehe hinter sich hat. Dennoch: Sie teilen denselben Humor und dieselben Interessen, ergänzen sich in ihren Unterschieden gegenseitig und können sich nach einem Streit wunderbar wieder versöhnen.
Bei all der Harmonie haben sie, obwohl sie einander auch äußerlich anziehend finden, sich gern und oft küssen und miteinander kuscheln, keinen Sex. Ist das anormal? Funktioniert eine Beziehung ohne Sex? Diesen Fragen wollen wir auf den Grund gehen.
Gründe für eine Beziehung ohne Sexualleben
Übersicht
Seelische Faktoren
Psychische Gründe liegen zum Beispiel dann vor, wenn ein Partner aufgrund einer frühen Missbrauchserfahrung kein Bedürfnis nach oder sogar Angst und Ekel vor einem sexuellem Kontakt verspürt. In diesem Fall ist der Bereich der Sexualität aber bereits bei Beziehungsbeginn und eher selten erst nach längerer Beziehungszeit ein schwieriger Bereich des Zusammenseins. Seelische Ursachen für eine sexlose Beziehung sind folgende:
- Ängste wie Versagens-, Verlust oder Zukunftsängste
- psychische Störungen wie Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen
- Stress
- Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper
Diese Gründe können besonders, aber sicher nicht nur auf dem Gebiet der Sexualität zu einem Rückzug vor dem Partner führen. Generelle Partnerprobleme, die aus den unterschiedlichsten Dingen wie Eifersucht, einem Vertrauensbruch oder ganz banal aus ungleicher Arbeitsbelastung im Haushalt und daraus resultierenden Differenzen erwachsen sein können, führen allerdings ebenfalls dazu, dass Mann und Frau sich im Bett voneinander abwenden.
- 101 Seiten - 28.01.2020 (Veröffentlichungsdatum) - Independently published (Herausgeber)
Körperliche Ursachen
Zu den körperlichen Beschwerden, die dem Sex mit dem Partner im Wege stehen, gehören zum Beispiel Östrogen- oder Testosteronmangel sowie verschiedene Erkrankungen, die sich hemmend auf die Libido auswirken. Als solche Leiden sind
- Drogenkrankheiten,
- neurologische Erkrankungen,
- Inkontinenz oder
- Stoffwechselkrankheiten
sowie Krankheiten aus psychischen Gründen vorstellbar. Und auch Medikamente wie Antidepressiva, Neuroleptika, Beruhigungs- oder Schlafmittel, die man in der Folge von Erkrankungen einnimmt, haben oft lustbremsende Nebenwirkungen. Obendrein sind Erektionsstörungen, die beim Mann und Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs, die bei der Frau (auch als Begleiterscheinungen psychischer Probleme) auftreten können, häufige Ursachen einer Beziehung ohne Sex.
Soziale Gründe
In unserer enttabuisierten Welt ist Sex beziehungsweise Sexualität beinah omnipräsent. Die Werbe- und die Musikbranche haben die Maxime „Sex sells“ nicht erst gestern für sich entdeckt und jede Bloggerin, jeder „Star“ aus den Untiefen sozialer Netzwerke und jedes Promi-Sternchen will es den Model- und Sangesikonen gleichtun und zeigt sich offenherzig und unzüchtig. Längst nimmt auch kaum einer mehr Anstoß daran, dass der Ärger im Büro mit einem lauten „Fuck!“ kommentiert wird und werden auch im Kreise weniger gut bekannter Bekannter sämtliche Ansichten über und Erfahrungen mit One-Night-Stands oder Intimrasur freimütig ausgetauscht.
Im krassen Gegensatz dazu stehen Umfrageergebnisse, wie das der Göttinger Universität von 2005, nach dem 17 Prozent der 13 000 befragten Liierten im Vormonat keinen und etwa 60 Prozent bloß einmal Sex gehabt hatten. „oversexed and underfucked“ hatte Autorin und Philosophin Ariadne von Schirach dieses Phänomen 2007 in ihrem Erstlingswerk „Der Tanz um die Lust“ ** genannt und so mancher Experte war und ist der Meinung, dass die Überflutung mit sexuellen Reizen zu Leistungsdruck, Versagensängsten und eben weniger Sex führe. Demnach trägt auch das permanente mediale Sex-Versprechen zu einer permanenten realen Sex-Abstinenz bei.
Altersbedingte Ursachen
Dass der Sex bei Paaren mit zunehmendem Alter abnimmt und Mann und Frau in der zweiten Lebenshälfte weniger beziehungsweise ab einem Alter von über 70 Jahren nur noch selten oder gar nicht mehr miteinander schlafen, scheint eine normale, nachvollziehbare Entwicklung zu sein, zumal die altersbedingten Veränderungen des Körpers auch die Sexualität beeinträchtigen. In diesem Kontext sind es längst nicht nur der während und nach den „Wechseljahren“ sinkende Östrogenspiegel bei Frauen und der ab dem 40. Lebensjahr stetig abfallende Testosteronspiegel bei Männern, die das Lustempfinden vermindern und in einer Beziehung ohne Sex münden können.
Auch die dezimierte Elastizität der beim Sex essentiellen Körperteile kann bei der Frau zu Verletzungen beim Geschlechtsverkehr und beim Mann zu langsameren und schwächeren Erektionen führen. Zusätzlich belasten viele im Alter vermehrt auftretende Erkrankungen (wie Diabetes oder Arteriosklerose) das Sexualleben oder haben Operationen (wie Gebärmutterentfernungen oder Prostata- und Darmoperationen) sexuelle Probleme zur Folge. Gleichwohl werden Partner, denen Sex in allen Phasen ihrer Beziehung wichtig war, auch im Alter mehr Sex haben als Partner, die ihr Leben lang weniger Interesse daran hatten.
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Ganz andere Gründe
Bei unserem Paar liegt keiner der genannten Gründe vor. Dennoch hat es weder Sex, noch das Verlangen, daran irgendetwas zu ändern. Warum? Die Antwort: Eine stabile Beziehung oder eine „reifere“ Form der Liebe!
Es ist keineswegs so, dass Rieke und Ansgar nie die körperliche Nähe des anderen gesucht haben. Am Beginn ihrer Beziehung haben sie sich wie jedes andere frisch verliebte Paar auf allen erdenklichen Gebieten erkundet. Mit den Jahren wurden die zeitlichen Abstände zwischen dem Sex allerdings immer größer und kam es lediglich dazu, wenn beide nicht wirklich Lust aufeinander, sondern eher den Gedanken hatten, dass es mal wieder an der Zeit wäre. Mittlerweile geben sie sich nicht mehr dem Gefühl hin, wenigstens ab und zu miteinander schlafen zu müssen, nur weil das in den Augen der Welt zu einer guten Beziehung dazugehört. Sie genießen eine Liebe, die kein Bett braucht, um sich zu äußern, sondern in allen Lebensbereichen stattfindet und sie sind froh darüber, dass sie den anderen – auch in seiner Einstellung zum Sex – vollkommen kennen.
- 96 Seiten - 12.10.2015 (Veröffentlichungsdatum) - Riva (Herausgeber)
Wenn fehlender Sex in der Partnerschaft nicht aus absolutem Desinteresse resultiert, ist er wissenschaftlich gesehen alles andere als ein Alarmsignal. Die Seltenheit oder gänzliche Absenz von Intimkontakten spricht vielmehr dafür, dass die Partner keiner fortwährenden Beweise bedürfen, um sich ihrer Liebe und Zusammengehörigkeit zu vergewissern und sich auch ohne Sex in der Beziehung sicher und geborgen fühlen.
Auch bei Domian war die Beziehung oder das Leben ohne Sex schon Thema.
Wann führt der fehlende Sex zu Beziehungsproblemen?
Darin, dass es in Ordnung ist, sich seine Zuneigung allein mit Worten und Zärtlichkeiten zu zeigen, sind sich längst nicht alle Beteiligten einer sexlosen Beziehung einig. Ganz gleich, ob psychische, körperliche, soziale oder altersbedingte Gründe für das „verkehrsfreie“ Nebeneinander verantwortlich sind: Sobald mindestens einer der Partner darunter leidet, dass sein Bedürfnis nach Sexualität nicht erwidert und erfüllt oder aber sein mangelndes Bedürfnis nach Sexualität nicht verstanden wird, bringt dies zwangsläufig auch Probleme mit sich.
Die Disharmonie in einem Bereich kann aus den anderen, bislang funktionierenden Bereichen einer Beziehung nicht dauerhaft ausgeklammert werden. Lässt sich kein Kompromiss im Sinne eines „ab und zu“ oder in Form von „ausgelagertem“ Sex finden, der bei Verheimlichung zu weiteren Problemen führen kann, hat die uneinvernehmliche Beziehung ohne Sex keine langfristige Chance. Nicht von ungefähr ist sexuelle Unzufriedenheit Studien zufolge einer der führenden Trennungsgründe. Wie lange man in einer Beziehung ohne Sexualität leben kann, ist von der Stärke der Bindung und von der Duldsamkeit des unzufriedenen Parts abhängig und lässt sich nicht generell festlegen.
Wann ist eine Beziehung ohne Sex möglich?
Funktionieren kann eine sexlose Beziehung dann, wenn – wie bei unserem Paar – Einvernehmen über die Abwesenheit von sexuellen Kontakten herrscht und keiner der Beteiligten etwas vermisst, was er sich über kurz oder lang außerhalb der Partnerschaft sucht oder suchen muss. Ist in allen anderen Beziehungsbereichen alles in Ordnung, reichen Händchenhalten, Kuscheln, Küssen, liebevolle Berührungen sowie das dadurch ins Blut ausgeschüttete und im Gehirn freigesetzte Neurohormon Oxytocin aus, um für Liebe und Treue und somit für eine starke Bindung in der Partnerschaft zu sorgen. Es gibt also viele Wege zu dauerhaftem Glück und es gibt sie auch ganz ohne Sex.
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- Artikel vom MjMuMDUuMjAxNg==